Kindergartenkritik

KindergartenKritik

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Ein „offener Brief“ und eine ungehaltene Rede

Am ersten September 2014 wurde in Dachau das Kunstwerk „Refugium“ der Künstlerin Esther Glück vor dem Kinderhaus Mariä Himmelfahrt installiert. Es zeigt ein Kind, das die Wände eines Raumes auseinanderdrückt, den ihm vorgegebenen Platz umgestaltet und den kleinen Raum somit aufbricht. Sein Anblick verunsicherte Eltern.

Ein Foto des Kunsterwerkes Refugium

Foto: Dieter Isemann

Das Kunstwerk sorgte zunächst für Empörung, deren Ausmaß dazu führte, dass die Skulptur vorerst verhüllt wurde.

Die Intention der Künstlerin ist es, darauf hinzuweisen, dass Kinder Freiräume brauchen! Dass sie für eine gesunde Entwicklung geistigen und realen Raum brauchen. Mehr Platz!
Das sind Aussagen, denen gerade Erzieher und Erzieherinnen nur zustimmen können. Doch über die klare Intention der Künstlerin hinausgehend, möchten wir in einem offenen Brief noch eigene Gedanken darlegen und zum weiteren  Nach-denken auffordern.

„Wir” – das sind acht Menschen, die sich entweder über den Erzieherberuf oder lediglich virtuell über ein Erzieherfachforum kennengelernt haben. Sieben Frauen und ein Mann, die Kindern bessere Kindergartenplätze wünschen und denen es gefallen hat, dass Deutschlands jüngster Oberbürgermeister selbst Hand angelegt hat, um das Refugium zu enthüllen. Denn diese Arbeit war für die Kinder, die freudig und mit vereinten Kräften am Tuch gezogen haben, dann doch zu schwer gewesen, wie mir der engagierte Dachauer Pädagoge Klaus Münzenmaier, der den Kindern das Kunstwerk erklärt hat, berichtete.

Angelika Mauel

 

Natürlich möchten Eltern nicht, dass ihr Kind aus großer Höhe abstürzt. Auch diejenigen, die in ihrer Kindheit wagemutig waren und dort kletterten, wo es verboten war, legen als Eltern und Erzieherinnen großen Wert auf die Sicherheit der Kinder. Vor diesem Hintergrund können wir verstehen, dass es Eltern und Erzieherinnen gibt, die das Refugium nicht vor einem Kindergarten sehen möchten. Ein stabiles Klettergerüst wäre vielen Erwachsenen und ganz bestimmt den Kindern, die besonders gern klettern, lieber gewesen als der Anblick einer Ängste auslösenden Skulptur.

Eine Unterschriftensammlung, mit der sich besorgte Erwachsene über die Aufstellung des Refugiums beklagen, zeigt, dass Bürger es wichtig finden, ihren Protest gegen die vor dem Dachauer Kindergarten Mariä Himmelfahrt stehende Skulptur zu bekunden.

Das so genannte „Refugium“ ist zweifellos kein Klettergerüst. Es fehlt die synthetische Fallschutzmatte, wie man sie heute unter vielen Gerüsten und Rutschbahnen vorfindet. Das „Refugium“ ist kein Konsumartikel, verkauft keine Extraportion an Sicherheit.

Am 26.5.2008 hat die damalige Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen in Berlin an der Einweihungsfeier einer ganz besonderen Kindertagesstätte teilgenommen. Sie besuchte eine Kita, die höchsten Sicherheitsansprüchen genügen muss, denn sie befindet sich im sechsten Geschoss eines Hochhauses in der Markgrafenstraße 20. Wollen die Kinder unter freiem Himmel spielen, steht ihnen eine Dachterrasse – quasi als „Refugium“ zur Verfügung. Eine Dachterrasse mit Gittern und Fangnetzen, eine Dachterrasse auf der allenfalls der Wind für Kapriolen sorgen darf. Schon möglich, dass nicht nur Architekten und Dachdecker höhnisch auflachen, wenn sie – unsere freie Presse war in den letzten Jahren diesbezüglich allzu diskret – erfahren, dass ausgerechnet diese Kita von einer siebenfachen Mutter als „wegweisend“ bezeichnet wurde. Wegweisend? – Ausgerechnet eine „Springer-Kita“ schafft es, die Angst zu erzeugen, dass ein Kind aus enormer Höhe raus springen könnte?

Auf einem Fenster der Berliner Springer-Kita „Die Wolkenzwerge“ steht die Vokabel „window“. Auf dem Fußboden steht „floor“. – Das Wort „cage“ wird man den Kindern, die „Wolkenzwerge“ genannt werden, vermutlich erst sagen, wenn sie danach fragen…

Was finden Eltern instinktiv eigentlich schlimmer: Einen so genannten „Kindergarten“ im sechsten Obergeschoss eines Hochhauses mit plattem Boden und einer vergitterten Außenfläche – oder ein Kunstwerk wie das Refugium von Esther Glück, das polarisiert und darauf aufmerksam machen kann, dass in Sachen Kinderbetreuung Irrwege beschritten wurden?
Am 12.6.2014 stürzte in Freital bei Dresden ein dreijähriges Mädchen sechs Meter tief aus dem zweiten Stock eines Kindergartens. Die zum Springer-Konzern gehörende Bildzeitung berichtete über die Umstände, die zum Unglück geführt haben. Die bloße Daseinsberechtigung mehrgeschossiger Kitas wurde nicht in Frage gestellt. Dabei hätte man doch ins Zweifeln kommen können. Keine zwei Wochen zuvor, am 2.6.2014 war in Bad Lauterberg im Harz ein zweijähriger Junge aus dem ersten Stock seiner Kita gefallen. Circa vier Meter tief. Ein Jahr zuvor überlebte ein Fünfjähriger sogar seinen circa acht Meter tiefen Fall am 3.6.2013 aus dem Fenster des dritten Stocks seiner Kindertagesstätte in Kiel.

Wenn die Diskussionen um das Refugium hier nicht verebben, was wir nicht hoffen! – dann hat das von Esther Glück geschaffene Kunstwerk für mehr Empörung in den Medien gesorgt als die Stürze von drei Kindern aus den Fenstern mehrgeschossiger Kitas. In den sozialen Netzwerken posteten nur für eine knappe Wochen User ihre Meinungen. Es gab Stellungnahmen wie „Unfähige kita ganz klar!!!“ Oder aber: „Sicher ist es nicht schön, dass es passiert ist, aber glaubt ihr, dass es mit Absicht passiert ist? Ich denke die Erzieherinnen sind für ihr Leben gestraft. Und nun auch noch zu schreiben, dass das Kind hätte tot sein könnte, finde ich sehr unverschämt, denn ich denke dass alle froh sein sollten, dass der Junge das mit Verletzungen überlebt hat.“

Viel zu schnell endete die Beschäftigung mit den Umständen und Ursachen, die auch in Zukunft noch dazu führen können, dass Kinder aus Kitafenstern fallen und dabei schwere oder tödliche Verletzungen erleiden. Wo bleiben die Zweifel an den Normen, nach denen der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz erfüllt wird? Wie weit geht die Verantwortung der Eltern für ihre Kinder? Reichen Betriebserlaubnisse und dazu vielleicht noch ein paar Gütesiegel aus, um die Verantwortung der Eltern für das körperliche und seelische Wohl ihrer Kinder in Krippen und Kitas ruhen zu lassen?

Machen wir uns nichts vor: Nicht alles, was einen behördlichen Stempel erhalten hat, muss in Ordnung sein!
Esther Glück hat sich mit ihrer Arbeit auf die wenigen Quadratmeter bezogen, die pro Kindergartenkind im Gruppenraum zur Verfügung stehen. In vielen Bundesländern sollen zwei oder zweieinhalb Quadratmeter pro Kindergartenkind oder dreieinhalb qm pro Krippenkind offiziell genügen. Derartige Maße als großzügig zu bezeichnen, fällt schwer. Das Schweigen darüber leider nicht. Und nun drückt symbolisch ein Kind, dessen Kopf im Verhältnis zum Rumpf noch besonders groß ist, die seinem Bewegungsdrang Grenzen setzenden Wände auseinander! Eigentlich eine Reaktion, für die alle, die es gut mit Kindern meinen, tiefes Verständnis haben müssten. Doch die plastisch dargestellte Dickköpfigkeit eines Kindergartenkindes bedroht Erziehungsprinzipen. Eltern und Erzieherinnen empfinden Unbehagen, lehnen das Kunstwerk ab. Nicht alle. (Wir zum Beispiel nicht) Aber andere haben sich empört, ihre Empörung durch einen Protestbrief bekundet und es stellt sich die Frage, wie aus Empörung, und Ablehnung mehr entstehen kann als der Wunsch, das Missfallen erregende Refugium unsichtbar zu machen.

Wir würden es begrüßen, wenn zur Einweihung des Denkmals im Rahmen eines Public Viewing jene Filmaufnahmen gezeigt würden, die anlässlich der Einweihung der Kindertagesstätte des Springer Konzerns mit dem Namen „Die Wolkenzwerge“ gedreht wurden. Wind zaust durch Haare. Während in modernen Zoos die Anlagen schon seit Jahrzehnten so gestaltet werden, dass ein Käfigambiente vermieden wird, springen dem Betrachter der Dachterrasse der Berliner Kita des Springer Konzerns die Sicherheitsvorkehrungen ins Auge. Ohne Gitter und Fangnetze ginge es nicht. Aber wer will die Welt durch Gitter sehen? Wie sieht es mit der Rettung von Kindergartenkindern im Falle eines Brandes aus? Was ist mit der Gefahr von Strangulationen für eventuell einmal unbeaufsichtigt im „Hochsicherheitstrakt“ spielende Kinder?

Hätte Ursula von der Leyen es doch bloß abgelehnt, der Eröffnungsfeier für diese Käfig-Kita beizuwohnen! Doch nein, sie bezeichnete ausgerechnet diese neu geschaffene Einrichtung als außergewöhnlich und wegweisend. Sie ließ es sich nicht nehmen, lächelnd vor laufender Kamera das „kluge pädagogische Konzept“ und das „herrliche Außengelände“ zu loben. Mit angenehm sanfter Stimme muss sie den richtigen Ton getroffen haben. Keine harschen Worte vor der Springer Presse, keine harschen Worte von der Springer Presse. Erstaunlicherweise schwiegen auch sonst die Journalisten im Land. Kein Widerspruch. Selbst von den sieben Kindern Ursula von der Leyens scheint keines öffentlich der prominenten Mutter gegenüber Empörung gezeigt zu haben. „Mama, was du da gesagt hast, ist voll peinlich! Hättest du nicht schweigen und mit Rücksicht auf uns drauf verzichten können, dich auf einem Bobbycar filmen zu lassen?“
Kinder brauchen ursprüngliche Freiheiten, echte Refugien und keine Kitas, deren Ausmaße durch die wirtschaftlichen Interessen Erwachsener normiert werden. Kindergärten mit Garten! Ebenerdige Kindergärten!

Sind wir alle schon viel zu gut „erzogen“, um für Kinder eine bodenständige Kindergartenpolitik einzufordern? Kindergärten zum Beispiel, in denen Kinder Platz haben, rennend und kletternd immer wieder etwas zu entdecken! Kletternde Kinder haben übrigens nur selten ein Lächeln auf dem Gesicht. Manche blicken geradezu finster drein, ohne dabei unglücklich zu sein. Voller Konzentration tasten sie sich vor. Sie wollen „Neuland“ betreten.

Kinder haben weniger Angst vor dem Perspektivwechsel als ihre erwachsenen Vorbilder und Möchtegern-Vorbilder. Viele Ängste der Erwachsenen sind ihnen noch fremd. Kein Schiss davor, von einer Karriereleiter zu fallen, in Fettnäpfchen zu treten oder einen „Faux-pas“ zu begehen! – Was würde es bringen, das Denk-mal, das uns ein Aufblicken zu einem „unerzogenen Kind“ zumutet, in die Verbannung schicken zu wollen? Weg damit! Es unter einem großen Tuch begraben?

Sobald das Refugium enthüllt ist, werden Menschen die Chance haben, es immer wieder aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Sie müssen das, was sie sehen, nicht schön finden. Aber es wäre gut, mehr als nur einmal hinzusehen. Wenn etwas ein „Denk-mal“ ist, lässt sich nicht alles, was ein Betrachter daraus entnehmen kann, mit einem zielgerichteten Tunnelblick erfassen.

Mit freundlichen Grüßen

Hanna van Gerven
Fachkraft für Hochbegabung
special-projects, Bremen

Olav van Gerven
special-projects, Bremen

Jutta Kohler
Erzieherin, Bonn

Andrea Prada
Dipl. Sozialarbeiterin, München

Anne Jüssen
Mutter und Kinderbuchautorin, Köln

Christine Ude
Erzieherin, Weilerswist

N.N.
Qualifizierte Tagespflegeperson

Angelika Mauel
Erzieherin und freie Autorin, Weilerswist
(verantwortlich für den Text)

Eine Antwort zu “Ein „offener Brief“ und eine ungehaltene Rede”

  1. Emma 11 jahre sagt:

    Ich als Kind finde es doof, dass ein Kindergarten so weit oben gebaut wurde, weil ein Kind stürzen könnte auch wenn ein Erziehungsberechtigter dabei wäre. Ich zum Beispiel konnte mit drei schon über einen 3 Meter hohen Zaun klettern. Auch wenn die Kinder nicht gut klettern könnten, können sie sich eine Schubkarre nehmen, drauf klettern und runter springen. Ich persönlich würde mein Kind nicht dorthin schicken oder den Kindergarten schließen lassen.
    EMMA, 10 Jahre

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