KindergartenKritik

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Mehrgeschossige Kitas. Was mutet man Kindern und ihren Erzieherinnen zu?

Der weißhaarige Herr hat schallend gelacht, nachdem er erfahren hat, dass in Berlin eine fünfgeschossige Kindertagesstätte eine Betriebserlaubnis erhalten hat. Es war ein bitteres Lachen. Der alte Herr war nicht nur Architekt sondern auch Opa.

Wie konnte es dazu kommen, dass im Jahr 2013 – unbeanstandet von der etablierten Presse – ein fünfgeschossiger Bau als ein Ort der Kinderbetreuung akzeptiert wird? Dass er sogar eigens fünfgeschossig gebaut wurde?

Darf man so „tolerant“ sein, weil Kitaplätze gebraucht werden und weil Altenheime und Krankenhäuser auch mehrstöckig sind? Wie gut, dass das im Kindergartenfachbedarf bestellte Plastikspielzeug als schwer entflammbar gilt. Lediglich an den so genannten Spielzeugtagen steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder leicht Entflammbares aus Fernost mitbringen. Auch während der Öffnungszeit einer Kita kann ein offenes Feuer – und nicht minder ein Schwelbrand – zur Bedrohung werden.

„Nur“ auf vier Geschossen werden seit November 2013 Kinder in einer Berliner Kita  betreut. (Die oberen Räume werden anderweitig genutzt.) Weder die örtliche Presse noch die Fachzeitschriften für Erzieherinnen schrieben bislang darüber, dass immer höhere Kitas ein immer größeres Risiko für Leib und Leben von Kindern und Erzieherinnen darstellen. Selbst wenn im Fall eines Brandes scheinbar alles glatt gehen mag, weil Kinder und Erzieherinnen nach etlichen Brandschutzübungen bestens vorbereitet sind, können Kinder immer für Überraschungen sorgen.

Angenommen ein Kind sucht sich außerhalb der Gruppenräume einen abgelegenen Ort und schläft ein… Eltern, die schon bange Sekunden erlebt haben, weil sie ihr Kind in der eigenen Wohnung nicht gleich fanden, werden sich vorstellen können, dass ein tief und fest in der Kita schlafendes Kind trotz flehentlichen Rufens seines Namens einfach nicht aufwacht. Und auch den Erzieherinnen, die gelacht haben, als sie einen Kindergartenneuling friedlich schlummernd im Büro der Leiterin unter deren Schreibtisch fanden, ist nur zu bewusst, dass sich nicht jedes Erschrecken später in Wohlgefallen auflöst. Erzieherinnen ist es schon passiert, dass sie selbst einen angekündigten Feueralarm überhört haben. Mal waren die Mädchen und Jungen ihrer Gruppe gerade lauter als die Sirene, mal hat ein Tinnitus dafür gesorgt, dass eine allein arbeitende Erzieherin nicht gehört hat, was sie hätte wahrnehmen sollen.

Ein Brand in einer Kita – so unvorstellbar wie der Brand in einer kambodschanischen Textilfabrik?

Sobald Bastelmaterial, Plastikspielzeuge, mit Lack beschichtete Möbel, Fußbodenbeläge und die in den Fluren hängenden Matschhosen und Anoraks kokeln oder Feuer gefangen haben, weiß niemand, wie sich Kindergartenkinder verhalten werden. Wie schnell können Kinder ohnmächtig werden? Welche Reaktionen sind möglich, wenn Kinder und Erzieherinnen Rauch einatmen, der die Schadstoffe einer kunterbunten Spielewelt enthält? Wie viele nach draußen gebrachte Kinder würden im Falle eines Brandes flink entwischen, schnell noch ihre Schuhe holen wollen oder einfach nur  hinter ihrer Lieblingserzieherin her rennen, wenn diese ins Haus eilt, um weitere Kinder aus dem Gebäude zu holen?

Nicht alles muss in bester Ordnung sein, nur weil es einen behördlichen Stempel erhalten hat. Es sollten Fragen gestellt werden. Viele Fragen! Sollen noch mehr mehrgeschossige Kitas eröffnet werden? Noch höhere?

Legalisierter Leichtsinn des lieben Geldes wegen – nein danke! Wenn für Kinder das Beste gut genug ist, wenn Kinderschutz wirklich zählt, dann ist klar: Die Gruppenräume der Kinder brauchen einen unmittelbaren Zugang zum Garten. Es kann nicht richtig sein, Zwei-, Drei-, Vier- und Fünfjährige über mehrere Stockwerke treppauf, treppab gehen zu lassen.

Mit wie vielen Kindern auf dem Arm oder an der Hand sollen Erzieherinnen im Notfall die Treppen hinab „traben“? Was wenn Kinder sich wie die sieben Geißlein verhalten und sich bei Gefahr verstecken? Es gibt Kinder, die halten sich die Augen zu, wenn sie etwas nicht sehen wollen. Andere Kinder würden wie hypnotisiert in ein echtes Feuer starren. Längst nicht alle Kinder trauen sich, ohne zu zögern eine eventuell für den Notfall vorgesehene Evakuierungsrutsche herunterzurutschen.

Schade, dass Eltern nicht davor zurückschrecken, ihre Kinder in mehrgeschossigen Kitas anzumelden. Schade, dass Erzieherinnen dort arbeiten. Wären wir anspruchsvoller, gäbe es derartige Kitas gar nicht. Egal ob kommunale, kirchliche oder private Träger: Kinderbetreuung in oberen Geschossen ist längst kein Tabu mehr. Selbst in einem anthroposophischen Kindergarten werden Kinder schon im zweiten und dritten Stock betreut und man hat anstatt eines Gartens nur eine Dachterrasse. Und in den Erzieherforen tauchen Fragen auf: Wie oft müssen Brandschutzübungen stattfinden? Dürfen Krippenkinder für eine Brandschutzübung im Januar eigens wärmer angezogen werden oder sollen sie in Strumpfhosen und Langarmbodys hinaus in die Kälte?
Was mutet unsere Gesellschaft Kindern und ihren Erzieherinnen zu?

Selbstverständlich achten Erzieherinnen sehr darauf, dass in den Einrichtungen kein Feuer ausbricht. Wenn überhaupt, kommt es meist nur zu derart kleinen Bränden, dass der Einsatz der Feuerwehr nicht erforderlich ist. Wasser, Brandschutzdecke und wirklich sehr selten einmal der Feuerlöscher reichen, um das Problem zu ersticken. Und doch gibt es triftige Gründe, ein gewisses Unbehagen gegenüber mehrgeschossigen Kitas zu spüren und beizubehalten.

„In Schulen und Kindertagesstätten sollte immer wieder die Möglichkeit von „Amokereignissen“ oder Bränden kindgerecht besprochen und durchgespielt werden. Spielgerät sollte in jedem Fall auf die Nutzbarkeit als Fluchthilfe untersucht und den Kindern nahe gebracht werden“, heißt es in einem Online-Artikel mit der Überschrift „Aufzüge im Brandfall benutzen“.
Dank moderner Technik gibt es bereits Aufzüge, die eigens gegen Löschwasser geschützt sind. Die technischen Möglichkeiten sind heute andere, als zu den Zeiten, als die Genehmigung  eines nur zweigeschossigen Kindergartens in einer wundervollen Jugendstilvilla mit einem traumhaften Garten bereits daran scheitern konnte, dass eine schwangere Mutter auf der Holztreppe mit kleinen Setzstufen möglicherweise hätte stürzen können.  Kein bisschen anders als früher aber sind die Grundbedürfnisse von Kindern. Es tut ihnen seelisch gut, Sonnenlicht und Regen, frische Luft und Erde zu spüren und mit allen Sinnen zu erkunden, was Natur bedeutet. Wie aber soll dies Kindern in innerstädtischen Hochhauskitas ermöglicht werden?

Auf Dachterrassen in luftiger Höhe fehlt der Mutterboden. Die zeitgemäße Alternative: Um wenigstens den Kleinsten sinnliche Erfahrungen mit Sand zu ermöglichen, werden schon mal mit feinem Vogelsand gefüllte Wannen in Gruppenräumen aufgestellt. Der feine Sand rieselt den Kleinen durch die Finger. Formen lässt er sich nicht.

Oder: Anstatt einer großen Gruppe von Kleinkindern beim An- und Auskleiden behilflich sein,  sprühen Erzieherinnen, die mit Regenschauern rechnen und die Prozedur des  kräftezehrenden Treppensteigens mit der Gruppe vermeiden wollen, schon mal großzügig Rasierschaum auf Tische oder Plastikplanen. Auch so werden sinnliche Erfahrungen ermöglicht. Den Kindern macht es Spaß. Und der kleine Niklas fällt vielleicht beim Mittagessen nicht so leicht vom Stuhl als wenn er sich draußen in einer Lehmpfütze verausgabt hätte.  Aber das sind Notlösungen.
Die Entfremdung von der Natur und den Bedürfnissen der Kinder erlebt im mehrgeschossigen Kitas eine Hochkonjunktur.

Deckel eines Hydrantenanschlusse im Pflaster

Foto: mhp – fotolia.de

(erschienen am 13.01.2014 auf Erzieherin.de)

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